Manchmal kommt der Wind einfach nur von vorn:
Meine Leukämie und ich
Vorbemerkungen des Autors Markus König:
Als ich vor fünf Jahren mit dem Schreiben begann, dachte ich nicht daran, was sich einmal aus diesem Zeitvertreib entwickeln würde. Anfangs war es mir nur wichtig, Erlebtes für mich festzuhalten und zu bewahren, war mir doch Unglaubliches widerfahren.
So manches Skurile, das mich ungläubig zurückließ aber auch Erfahrungen, die mich Kraft kosteten, sich als Herausforderungen zeigten, denen ich kaum gewachsen war, wären sicher in Vergessenheit geraten, wenn ich sie nicht niedergeschrieben hätte.
Doch 2014 waren tatsächlich aus wenigen Zeilen viele Seiten geworden, aus losen Aufzeichnungen ein Manuskript. Ein Verlag fand sich und aus der fruchtbaren Zusammenarbeit entstand ein Buch, das im März 2015 erschien.
Nachfolgend abgedruckt ist das vierte Kapitel des ersten Teils des Buches.
Eine weitere Leseprobe und weitere Informationen finden sich unter der Internetadresse:
www.manchmalkommtderwindeinfachnurvonvorn.de
Leseprobe
Es ist ein kühler Morgen. Durch das angelehnte Fenster kam die klamme Kälte der Nacht ins Zimmer gekrochen. Das Strahlen der aufgehenden Sonne weckt mich. Sie setzt sich langsam gegen den weißgrauen Morgennebel durch, der in Fetzen an den Bäumen hängt, spiegelt sich im Fenster des Nachbarhauses, schleudert mir Blitze entgegen. Ich blinzle, versuche mich an das weiße, knallig helle Licht zu gewöhnen. Unter meiner Decke ist es warm, ich werfe regelmäßig einen Blick auf die Uhr. Noch ist genug Zeit.
Annette neben mir rührt sich nicht. Kaum ein Geräusch ist zu vernehmen, nur ein paar Vögel tragen einen Wettstreit aus, der seine Kreise bis ins Schlafzimmer zieht. Ich bekomme kein Auge mehr zu, stelle mir pausenlos die gleiche Frage: Bin ich froh, dass es nun los geht?
Nicht einmal ein viertel Jahr ist vergangen, seit sich mein Leben einschneidend verändert hat. Alles dreht sich um die Krankheit. Krankenhaus, Arztbesuche, Untersuchungen. Hin und her, auf und ab. Ein Roulette. Und jetzt? Rien ne va plus.
Seit zwei Wochen habe ich Gewissheit. Keine erlösende Nachricht. Zwar mit Hilfe vieler bewältigt, wie ich mir einrede, und doch. Die Leukämie schnürt mich ein. Oft liege ich wach. Der Schlaf flieht vor mir, ich hole ihn nur selten ein, kämpfe mit meinen Dämonen und dem Bettzeug. Erschöpfung an jedem Morgen.
Annettes gleichmäßige Atemzüge helfen mir in der Nacht ruhiger zu werden, wenn mich Panik im Genick packt und Angst ihren Schatten über mich ausbreitet. Ich hole tief Luft, werfe vorsichtig die schwere Decke beiseite, sehe zu Annette hinüber und stehe behäbig auf, immer darauf bedacht, sie nicht zu stören. Sie hat sich so fest eingerollt, dass man nur ihre zerzausten Haare sieht. Wahrscheinlich spürt sie, dass ich das Bett verlasse, denn sie dreht sich um. Ich will leise das angekippte Fenster schließen. Überlege es mir dann doch anders, schlage sacht die Gardine zurück und öffne es weit. Die Aussicht auf einen ersten wirklichen Frühlingstag hat mich dazu eingeladen. Wird gar nicht so übel heute, verspricht mir die Sonne, die gerade hinter der Hausecke auftaucht. Ein Sog erfasst mich, will mich meiner Nachdenklichkeit entreißen. Das Ergebnis dieses Tauziehens bleibt offen, wie so vieles andere auch.
Noch ist eine Stunde Zeit. Annette begleitet mich. Dafür bin ich ihr dankbar. Mir kommt in den Sinn, dass ich ihr das unbedingt sagen muss. Sie hat eine Woche Urlaub genommen, um während der Chemotherapie für mich da zu sein. Warum soll sie nicht noch liegen bleiben. Hektik ist unnötig. Alles Notwendige haben wir am gestrigen Abend vorbereitet.
Der allmorgendliche Tee steht schon auf dem Tisch, als Annette unausgeschlafen in die Küche kommt. Sie schaut zerknittert drein und fragt mich, wie es mir geht. Ich ahne, dass sie keine Antwort erwartet.
Die morgendliche Umarmung tut gut, ist besser als unverbindliche Worte. Wie es wohl wäre, wenn es Annette nicht gäbe? Würde ich die Last, die mich niederzudrücken droht, ohne ihren Zuspruch und Halt bewältigen?
Ich blättere durch die Zeitung. Banalitäten fungieren als Nachrichten, die es wert sind verbreitet zu werden, ein belangloser Tag. Ich lege die Postille sorgfältig zusammen, falte sie möglichst genau.
Annette sieht aus, als ob sie kein Auge zugemacht hat. Wir tauschen Nichtigkeiten aus. Ich verspüre keinen Hunger und beschränke mich auf eine Tasse Tee. Annette tut es mir gleich.
Es wird langsam Zeit für den Aufbruch. Wir haben das Unvermeidliche vor uns hergeschoben, bis sich ein fast unüberwindbarer Wall aufgehäuft hat, das Limit bis zur letzten Minute ausgereizt ist. Annette nimmt mich in den Arm.
Ich angle mir den neuen Mantel vom Haken. Ergebnis einer Einkaufstour, bei der mich Annette ausstaffiert hat. Zum Mantel kamen Mütze und Schal. Selbst die Umhängetasche ist jungfräulich. Gestern Abend habe ich alles Wichtige darin verstaut.
Lange stand ich vor meiner Bücherwand. Ich entschied mich für einen meiner zerlesenen Krimis. Da weiß ich, was mich erwartet und der Schluss ist keine Überraschung mehr. Erscheint mir in meiner Situation eine logische Wahl.
Als wir aus der Tür schlüpfen, empfängt uns der Frühling mit einem wunderbar wolkenlosen Himmel und dem Duft früher Vegetation. Er brauchte in diesem Jahr ziemlich lange, um die ersten Siege zu erkämpfen. Ich frage mich, ob ich die Schlacht, in die ich heute ziehe, gewinnen kann?
Die Sonne hat inzwischen die letzten Nebelschwaden verjagt und versucht uns noch reichlich kraftlos Wärme zu spenden. Gut, dass es nicht regnet. Ich könnte heute kein deprimierendes Grau und vor Nässe triefende Sträucher ertragen.
Annette verschließt die Haustür besonders sorgfältig, als ob wir sehr lange nicht wiederkehren würden. Ich drehe mich unmotiviert um, während wir die Treppe hinuntergehen. Obwohl ich in ein paar Stunden wieder hier sein werde, zelebriere ich einen sentimentalen Abschied, als wolle ich unwiderruflich ade sagen.
Ich begebe mich freiwillig in die Position des Beifahrers. Dem automatischen Griff zum Radio widerstehe ich. Die Ruhe tut mir gut. Wie ferngesteuert werfe ich einen Blick in meine Tasche, überprüfe den Inhalt.
Wann war ich zuletzt so schweigsam? Ich fühle, dass sich langsam die Reste meiner über Jahre hart erarbeiteten Gelassenheit in Luft auflösen. Ich schließe die Augen, ertappe mich beim Versuch, anhand der Bewegungen des Autos zu erahnen, wo wir uns gerade befinden. Das halte ich nicht lange durch, blinzle und riskiere einen Blick durch die fast geschlossenen Lider. So weit schon. Sicher sind wir viel eher da, als geplant. Ich bilde mir ein, dass heute besonders wenig los ist.
Die Klinik ist kaum eine halbe Stunde entfernt. Dieser glückliche Umstand eröffnete mir die Möglichkeit einer ambulanten Chemotherapie und ich entgehe, so hoffe ich, dem Horror eines Krankenhausaufenthaltes. Annette steuert zielsicher den Parkplatz an. Das Aussteigen fällt mir nicht leicht. Ich schultere meine Tasche und nehme Annettes Hand. Wir schauen uns in die Augen. Es ist nicht weit, vielleicht 200 gemütliche Meter. Den Spaziergang in der mittlerweile wärmenden Morgensonne genießen wir und lassen uns Zeit.
Ich denke spontan an unseren ersten Besuch. Unbeschreiblich lange her, kaum vorstellbar, dass seitdem erst sechs Wochen vergangen sind. Keine unnützen Grübeleien mehr.
Annette stemmt sich kraftvoll gegen die schwere Eingangstür und hält sie mir auf. Ziemlich leer heute, fast verwaist. Da vor uns niemand am Tresen wartet, verläuft die Anmeldung unkompliziert, die ziemlich umfänglichen Papiere liegen schon bereit. Ein bisschen Zeit bleibt mir, bevor der Countdown startet.
Wir suchen uns einen Platz im Wartebereich, genießen die Wahlfreiheit. Kein Schieben und Drängen, keine Hektik, um einen Stuhl zu ergattern. Kein krampfhafter Versuch, sich durch die Garderobe der Wartenden zu wühlen, um den Mantel an den letzten freien Haken zu hängen.
Nervosität erwischt mich unversehens und macht sich an den Grundfesten meiner sorgsam aufgeschichteten Schutzmauer zu schaffen. Ich lehne mich an, beuge mich nach vorn und stütze den Kopf auf die Hände, mein Hinterteil sucht rutschend Bequemlichkeit auf dem Stuhl. Ich nehme die Brille ab, putze sie, setzte sie auf die Nase, um das gleiche Spiel von neuem zu beginnen.
Annette legt ihre Hand auf meinen Oberschenkel und zischt vernehmlich durch die Lippen. Das unterbricht meine unkontrollierten Rotationen und ich komme zur Besinnung. Sicherlich versucht Annette in meinen Augen zu lesen, wie es mit mir steht. Ich würde gern etwas sagen, lasse die Gelegenheit jedoch ungenutzt verstreichen, brauche heute viel zu lange, Gedanken und Gefühle zu artikulieren, bin fortwährend zu spät dran. Auch jetzt bleibt keine Zeit zum Nachdenken.
Kaum habe ich mein Buch zur Hand genommen und eine halbe Seite gelesen, werde ich aufgerufen und eine Schwester bittet mich, ihr zu folgen. Ich erhebe mich schwerfällig mit einem ergebenem Seufzer und stelle mich meinem unweigerlichen Schicksal. Ich folge der Einladung, werfe den Hals verdrehend einen Blick über die Schulter und grinse Annette linkisch an, die mir Mut machend hinterher schaut.
Meine Herzfrequenz erhöht sich um einiges. Die Hände werden feucht. Mich drängt es, sie an den Hosenbeinen abzuwischen. Ich atme mehrmals tief durch, um die aufkommende Panik zu bekämpfen, gebe mich betont lässig. Meine Schritte werden verhaltener, je näher ich dem Therapiebereich komme, ich zögere hineinzugehen, die Überwindung kostet mich einen Jahresumsatz.
Ich werde wie ein alter Bekannter mit einem Aha begrüßt, setze mich in einen freien Behandlungsstuhl. Die Seltenheit meiner Erkrankung und die Umstände ihrer Entdeckung haben mir bei den Angestellten eine gewisse Bekanntheit eingebracht. Mit geschultem Blick erkennen die Damen meinen angegriffenen emotionalen Zustand und lockern mich gekonnt mit aus der Schublade gezogenen Nettigkeiten auf. Mir wird eine Flexüle gelegt und Blut abgenommen.
Die Atmosphäre ist angenehm entspannt und die Routine der Schwestern wirkt auf mich wie ein Sedativ. Der innere Aufruhr lässt langsam nach, Tauwetter stellt sich ein.
Ich versuche, es mir so gemütlich wie möglich zu machen. Die von mir anfangs gewählte Liegeposition gebe ich bald auf. Eine leichte Schrägstellung der Rückenlehne und die ausgefahrene Stütze für die Beine müssen reichen. Den rechten Arm platziere ich auf der dafür vorgesehenen Ablage.
Mittlerweile klopft mein Herz bis zum Hals. Ist es Angst? Ungewissheit? Meine Mütze behalte ich auf, obwohl sich Schweißperlen auf meiner Stirn bilden. Die Kopfhaut beginnt zu jucken. Ich verzichte dennoch auf die Entfernung meines Kopfschmucks. Er soll mir Begleiter und Talisman während der Chemotherapie sein.
Die Schwester kümmert sich vorerst um einen weiteren Patienten. Dann schaut sie in eine Liste und schnappt sich die vorbereitete Infusion. Der Beutel wird angehängt und mit der Flexüle verbunden. Der Schlauch schlängelt sich durch einen Infusionsapparat. Ein Regularium zur genauen Steuerung der Infusion.
Jetzt geht es los, denke ich und suche hektisch und befangen Halt und Bequemlichkeit in meinem Behandlungsstuhl. Nein, vor Beginn will Dr. Bas mit mir sprechen. Also warten. Nicht lange. Dr. Bas stürmt herein und wünscht mir einen guten Morgen. Fragt, wie es mir geht, hat ein paar Aufmunterungen parat. Sie klingen nicht einstudiert. Das nenne ich Professionalität. Ansonsten macht er wie gewohnt nicht viele Worte. Er kontrolliert die Infusion und überprüft die Einstellungen, will wissen, ob es Unklarheiten gibt, ob ich noch Fragen habe.Ich habe eine Menge Fragen, traue mich jedoch nicht, sie zu stellen.
Es gibt einen kurzen Ton. Kein Zurück mehr, kein Entkommen. Etwas kriecht meinen Arm hoch. Ganz langsam. Oder bilde ich mir das ein? Ich will stark sein. Da ist bestimmt nichts. Ein Seitenblick zeigt mir, eine Anzeige ist gerade auf 10 gesprungen. Zehn Milliliter erst. Und trotzdem.
Die Panikattacke begrüße ich wie einen alten Freund. Wie viel Zeit ist schon vergangen? Dichter Nebel steigt auf. Ich versuche die Schwester auf mich aufmerksam zu machen. Das ist nicht nötig. Sie hat mich im Auge behalten, kommt mir zu Hilfe und fragt, ob alles in Ordnung ist.
Mein Mund ist trocken vor Angst und die Zunge klebt unlösbar am Gaumen, ich kann nicht antworten. Sie streicht mir beruhigend über den Arm. Ich bekomme eine Injektion in den Zugang. Die Wirkung setzt unverzüglich ein und die Dunstschleier lichten sich.
Ein tiefer Atemzug. Die Panik zieht sich allmählich zurück. Scham ersetzt ihren Platz. Ich war mir sicher, meine Furcht vor der Chemo im Griff zu haben, ein glatter Selbstbetrug. Ich bemühe mich, mit meiner linken Hand ein Taschentuch hervorzuzaubern. Muss mir den Schweiß auf der Stirn abwischen. Die salzigen Tropfen sammeln sich in den Augenbrauen und werden gleich in die Augenwinkel laufen. Vorsichtig bewegen, bloß den Schlauch nicht abreißen. Besser.
Ich beobachte die Patienten. Kaum einer rührt sich. Bis auf die Meldungen der Infusionsapparate ist es still. Jeder ist mit sich beschäftigt. Durch die große, mittlerweile geschlossene Glastür dringt kaum ein Geräusch.
Dort draußen nimmt das Leben seinen gewohnten Lauf, zieht seine eingefahrenen Bahnen. Keine Sonnenfinsternis verdunkelt den Himmel, kein Donner kündigt den Weltuntergang an, ich erwarte vergeblich die Apokalypse. Der Beginn meiner großen Reise verläuft unspektakulär.
Die Uhr vor mir an der Wand ist nicht eine Minute stehen geblieben. Der Sekundenzeiger dreht wie gewohnt seine Runden, auch wenn ich wetten könnte, dass er einen Augenblick innegehalten hat. Ich habe es ganz genau gesehen. . . . . .
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